Interview mit Hans-Martin Haist von der Stiftung EiGEN-SiNN

In diesem Interview mit Hans-Martin Haist stellen wir Ihnen die Stiftung EiGEN-SiNN vor, deren Arbeit für uns eine Herzensangelegenheit ist.

Frage: Guten Tag Herr Haist, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für das Interview nehmen. Sie sind der Vorstand der Stiftung EiGEN-SINN aus Freudenstadt, deren Ziel es ist, Kindern in schwierigen Lebenslagen Hilfestellung zu geben. Welche Projekte betreibt EiGEN-SINN aktuell?

Hans-Martin Haist: Momentan betreuen wir etwa 140 benachteiligte Kinder im Raum Freudenstadt und Horb pädagogisch. Dabei handelt es sich um Kinder aus Suchtfamilien, von psychisch kranken Eltern oder um Kinder, deren Eltern an Krebs oder anderen schweren Krankheiten erkrankt sind. Wir haben momentan Kinder aus 20 verschiedenen Herkunftsländern. Alle diese Kinder tragen einen schweren Rucksack mit sich herum. Bei uns werden sie versorgt und gefördert. Dabei ist unser Hauptthema, die Kinder ihren eigenen Lebenssinn finden zu lassen. Auf diesem Weg begleiten wir sie.

Frage: Ist das auch der Gedanke hinter dem Namen EiGEN-SINN – den Kindern den eigenen Sinn wieder zu geben?

Hans-Martin Haist: Der Name EiGEN-SINN hat zwei Wurzeln. Zum einen gibt es ein wunderbares Buch, das heißt „Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde“. In diesem Buch beschreibt der Autor, dass Huckleberry Finn, der ja ein sehr schweres Leben als Kind hatte, sich seines eigenen Sinnes nicht schämen musste. Er konnte seinen unverschämten Eigensinn leben. Das hat mich damals sehr stark angesprochen und das wollte ich auch für unsere Kinder, dass sie den eigenen Sinn finden und sich ihrer nicht schämen. Die zweite Wurzel ist Viktor Franke. Er war Psychiater, hat vier Konzentrationslager überlebt und die Sinn-Therapie entwickelt. Die Grundsätze dieser Therapie sind für unsere Kinder genau richtig. Der Sinn ist von der ersten bis zur letzten Sekunde bei uns in der Arbeit sehr wichtig.

Frage: Wie verläuft ein typischer Tag in Ihrer Stiftung?

Hans-Martin Haist: Der normale Tag in einer Gruppe verläuft so, dass die Kinder nach der Schule zu uns kommen. Sie bekommen ein warmes Mittagessen, das viele zu Hause schon gar nicht haben, und dann gibt es eine Austauschrunde. Was beschäftigt dich gerade? Wie war es in der Schule? Allein hier gibt es schon viele Konfliktfelder. Dann folgt eine kurze Hausaufgabenzeit, bevor es je nach Gruppe an spezifische, pädagogische Fördermaßnahmen geht. Die einen gehen raus Fahrrad fahren, andere spielen Theater, die Dritten malen, die Vierten basteln in der Werkstatt. Es kommt immer darauf an, was die Gruppe für ein Ziel hat. Bei den Fünften kann auch mal den ganzen Nachmittag eine Gesprächsrunde oder themenbezogene Arbeit stattfinden. Es ist eine vielfältige Arbeit, die sich immer an den Bedürfnissen der Kinder orientiert.

Frage: Wohnen die Kinder bei Ihnen oder sind das ambulante Projekte?

Hans-Martin Haist: Das sind rein ambulante Projekte. Die Kinder kommen nach der Schule zu uns und gehen abends wieder nach Hause. Sie kommen ein- bis zweimal in der Woche zu uns und das Faszinierende ist, dass diese ein- bis zweimal in der Woche die Kinder schon stärkt und für sie sehr hilfreich ist.

Frage: Das heißt, die Kinder leben bei Ihnen nicht in einer sicheren Blase, sondern haben ihren normalen Alltag, aber die Möglichkeit, bei Ihnen Zeit zu verbringen?

Hans-Martin Haist: Ganz genau. Es ist wichtig, dass das hier nichts Abgehobenes ist, sondern dass es sich im Alltag widerspiegelt. Unsere Förderung ist nachhaltig. Wir arbeiten auch intensiv mit den Eltern zusammen und die Rückmeldungen zeigen, dass sich dieses Konzept bewährt.

Frage: Für Ihr Projekt „Momente des Glücks“ haben Sie weltweit selbstgemachte Fußbälle von Straßenkindern gesammelt und die Sammlung wurde sogar vom Deutschen Sport & Olympia Museum präsentiert. Haben Sie irgendeine eindrückliche Geschichte, die zu einem dieser Bälle gehört?

Hans-Martin Haist: Momentan ist das Eindrücklichste, dass wir die Bälle haben und jetzt kommen die Flüchtlingskinder im Grund hinterher. Einen Ball bekam ich aus dem Amazonasgebiet in Brasilien. Ein Missionar war mit einem Einbaum tief in den Amazonas gefahren und kam zu einem Indianerdorf. Dort hat er gesehen, wie die Kinder etwas gebastelt haben. Er fragte den Häuptling, was die Kinder denn da machen. Der Häuptling antwortete: „Die machen Fußbälle.“ Daraufhin hat der Missionar um einen dieser Bälle gebeten, der fast ein Kilogramm wiegt und größtenteils aus Lehm besteht. Einen Kopfball kann man damit nicht machen. Diesen Fußball haben wir jetzt. Das war die weiteste Strecke und der eindrücklichste Ball, mit dem man tatsächlich Fußball spielen kann. Aber es gibt zu fast jedem Ball eine Geschichte.
Frage: Aktuell sammeln Sie ausrangierte Gitarren und Bücher für jugendliche Flüchtlinge, die ohne Eltern nach Deutschland gekommen sind. Ist Musik eine Sprache, die über die kulturellen und sprachlichen Barrieren hinweg verbindet?

Hans-Martin Haist: Ja, unbedingt. Ich halte Musik für etwas ganz Wichtiges bei der Integration, weil die Jugendlichen, egal aus welchem Herkunftsland sie kommen, ihre Geschichte so auch ausdrücken können. Bei mehreren Liederabenden haben wir Instrumente zur Verfügung gestellt, dann sangen die Jungs aus dem Irak oder aus Afghanistan oder aus Gambia ihre Lieder. Und danach sangen wir unsere Lieder. Dabei singen wir nicht gegeneinander, sondern wir singen miteinander. Die Jungs begleiten uns bei den deutschen Liedern mit Instrumenten und wir begleiten sie bei ihren. Musik ist eine Sprache, die über die Grenzen hinweggeht und das wollen wir fördern.

Frage: Sind schon Auftritte geplant?

Hans-Martin Haist: Nein, so weit sind wir noch nicht. Aber ihre Frage ist schon richtig. Im Hinterkopf haben wir natürlich schon, dass wir einmal auftreten. Vielleicht findet das dann auf dem Marktplatz statt oder wir machen einen kleinen Chor und zeigen den Menschen so die verschiedenen kulturellen Ansätze.

Frage: Vor etlichen Jahren haben Sie die Förster Rohhütte von der Stadt Freudenstadt übernommen, Sie betreiben einen Seilgarten für das Projekt „Schwindelfrei“ und machen mit Ihren Jugendlichen auch Renovierungsarbeiten. Ihre Arbeit hat oft eine handwerkliche Komponente. Ist das eine bewusste Betonung von Handwerk in Ihrer Arbeit?

Hans-Martin Haist: Also ich selbst bin handwerklich nicht sehr begabt, aber ich beobachte die Kinder. Viele unserer Kinder könnten ein Handwerk erlernen. Wir versuchen, ihnen so viele verschiedene Dinge wie möglich anzubieten, um festzustellen, in welchem Bereich sie auch wirklich besonders befähigt sind. Viele unserer Kinder werden später nicht viel Geld haben und ihre Reparaturen selbst durchführen müssen. Auch deswegen versuchen wir, ihnen handwerklich etwas beizubringen. Außerdem stärkt handwerkliche Arbeit das Selbstbewusstsein. Ein großes Problem unserer Kinder heutzutage ist, dass sie keine Selbstwirksamkeit mehr haben. Sie werden oftmals nicht zum Helfen gebraucht und erleben dadurch auch nicht, dass sie wirksam sind. Dann müssen sie Blödsinn machen, um den Erwachsenen eine gewisse Wirksamkeit zu zeigen. Vor kurzem haben wir ein tolles Projekt mit Paletten gemacht. Palettenmöbel sind in Deutschland gerade der Renner. Die Paletten kosten quasi nichts und wir haben gemeinsam mit den Kindern wunderbare Möbel hergestellt. Die Kinder waren begeistert, wir haben andere Menschen beschenkt und uns selbst eine Bank gemacht, auf der sich ältere Menschen vor unserer Kinderwerkstatt hinsetzen und ausruhen können. Bei diesem Projekt haben die Kinder erlebt, „gemeinsam schaffen wir das und andere haben auch noch etwas davon.“ Das ist das Thema der handwerklichen Komponente, das aus den verschiedenen genannten Aspekten ganz, ganz wichtig für uns ist.

Frage: Das ist ein sehr spannendes Konzept. Auf Ihrer Webseite sprechen Sie auch vom „Lebensraum Wald“. Wie reagieren denn die Kinder und Jugendlichen auf die Natur, tatsächlich weg von ihren Smartphones?

Hans-Martin Haist: Also, ich bin ja immer der Meinung, wir müssen besser sein als die Medien, die die Kinder in den Bann ziehen und der „Lebensraum Wald“ ist definitiv besser. Das erleben wir bei allen Kindern, mit denen wir rausgehen, ob das jetzt Jungen sind, die straffällig geworden sind oder Mädchen, die sonst noch nie im Wald waren. Der Wald hat eine unheimlich beruhigende Wirkung und ist reizarm. Mit der Zeit gibt es hier viel weniger Ärger und die Kinder können sich in Freiheit ausagieren. Es gibt keinen Lärmpegel, da der Wald die Lautstärke schluckt. Im Wald haben wir oft die besten Erlebnisse. Das Problem heute ist, dass fast niemand mehr – einschließlich der Familien – in den Wald geht. Deshalb nehmen wir die Kinder ganz bewusst raus. Manchmal übernachten wir mit den Kindern auch in der Förster Rohhütte. Solch ein Abenteuer zwischen Angst und Vertrauen erleben die Kinder heute sonst nicht mehr. Nach einem Tag im Wald gehen sie mit einem großen Glücksgefühl nach Hause.

Frage: Arbeiten Sie in diesem Bereich auch mit Unternehmen zusammen?

Hans-Martin Haist: Wir machen das mit den handwerklichen Hilfestellungen ganz bewusst auch in Richtung Ausbildung. Wenn wir merken, dass die Kinder zum Beispiel gerne mit Holz arbeiten, dann versuchen wir auch Praktikas bei Schreinern oder Zimmermännern zu bekommen und haben da auch schon gute Erfahrungen gemacht. Gerade hat einer unserer Jugendlichen beim Nachbarschreiner eine Lehrstelle bekommen, andere sind Zimmermänner. Dabei ist Holz für uns auch ein großes Thema. Holz ist warm und spricht die Kinder an, besonders die Jungs. Insgesamt haben wir sieben oder acht Jungen in holzverarbeitende, handwerkliche Betriebe vermittelt.

Frage: Wie kann man, neben Spenden, die Stiftung EiGEN-SINN unterstützen?

Hans-Martin Haist: Unternehmen können durch Angebote, seien es Ausbildungsplätze oder auch Praktikaplätze, helfen. Grundsätzlich ist es aber leider so, dass Geld unser Hauptthema ist. Wir benötigen jeden Monat 36.000 € an Spenden und das ist ein kontinuierlicher Kampf. Eine große Hilfe ist es auch, wenn man von uns erzählt. Da gibt es diese Stiftung und die bewirkt viel in unserer Region. Die Stiftung beeinflusst den Alltag hier. Dabei muss man sich auch bewusst machen, dass die Kinder, die bei uns in der Stiftung sind, mit unseren Kindern in der Schule oder außerhalb Kontakt haben. Deshalb ist die Frage, sind diese Kinder aggressiv? Mobben sie? Oder trägt die Stiftung durch ihre pädagogischen Projekte dazu bei, ein friedliches Miteinander zu schaffen? Im Grunde bedeutet aller Einsatz für die Stiftung EiGEN-SINN, dass wir den sozialen Frieden in unserer Region aufrechterhalten können.

Links

Bildquellen

Alle Bilder für dieses Interview wurden von Hans-Martin Haist zur Verfügung gestellt.

Text

Die Fragen stellte Tobias Clemens Häcker.

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